Ey, Du Opfer – eine Beichte!

Die Opferrolle ist was ganz Feines:

man kann sich in ihr so richtig wohlfühlen, sich hinter ihr verstecken, sie aus voller Überzeugung leben, sie benutzen, sie zelebrieren, Andere dank ihr manipulieren und sich immer genug Aufmerksamkeit sichern.

Auch ich habe die Rolle in regen Abständen bis zur Perfektion gespielt (ich habe ja schließlich auch Perfektionismus).

In Zeiten in denen es mir nicht gut ging ebenso wie Zeiten in denen ich unzufrieden und unsicher war, schien diese Rolle einfach wie für mich gemacht. Sie wurde quasi zur Lebenseinstellung!

Das Opfersein sicherte mir Aufmerksamkeit, Mitleid und Zuspruch!

Ich war dann, je nach Situation und Lebensabschnitt, das arme Opfer böser Krankheiten, Chefs und Chefinnen, Umstände, Menschen (bekannten und fremden), Eltern, Freundinnen und Freunden.

Und wenn die aktuelle Situation mal nicht ganz gereicht hat, um die Rolle ganz auszufüllen, wurde so richtig schön in der ach so bedauernswerten Vergangenheit gekramt und einfach dazu addiert.

Dann kamen alle Ungerechtigkeiten und Gemeinheiten, die mir in meinem Leben widerfahren sind, aufgewärmt auf den Tisch und ich konnte mich ordentlich bemitleiden lassen oder – wenn gerade niemand anwesend war – allein in meinem bedauernswerten Elend suhlen.

Die Lehrer waren an meiner verlängerten Schulkarriere schuld, meine Eltern sowieso an allem, ich hatte gemeine Exfreunde, Neurodermitis, zu viele Sommersprossen, war ja ein Scheidungskind und und und… bla bla bla…

Ich war das bedauernswerte, hilflose Opfer.

Ich denke, es hat einen Grund warum es Opfer ROLLE heißt, es ist schlichtweg eine Rolle, wie im Film, Fernsehen und Theater, die man spielt. Oder die man sich aussucht!
Publikum ist für die Opferrolle übrigens immens wichtig: Selbstmitleid kann man immer haben, aber Menschen, die aktiv bedauern und bemitleiden, schockiert und mitfühlend schauen, machen die Opferrolle erst komplett.

Ebenso wie die gewissenhaft einstudierte Rolle im Theater, möchte die Opferrolle eben auch gesehen und bewundert werden.

Opfer sein ist also eigentlich ´ne super Lebenseinstellung!

Aber es ist auch nicht immer leicht, ein selbst gewähltes Opfer zu sein!

Blöd ist es nämlich, wenn das Publikum dann mit Lösungsvorschlägen daher kommt!
Noch blöder ist dann, wenn die Lösungsvorschläge auch noch realistisch umsetzbar sind.
Am allerblödesten ist aber, wenn das Publikum keine Lust mehr auf das Theater hat und das bedauernswerte Opfer mit den realistischen Lösungsvorschlägen allein lässt.

Das praktische am Opfer sein ist ja nicht nur, dass man sich ordentlich im Mitleid anderer suhlen kann, sondern auch noch keine Verantwortung für die eigene Situation übernehmen muss.

Denn in dem Moment, in dem man die Verantwortung übernimmt, die eigene bedauernswerte Situation zu ändern, tut man etwas – man wird also wortwörtlich zum Täter!
Und Täter und Opfer sein geht in der Opferrolle leider nicht gleichzeitig!

Am End muss man also die Opferrolle, in der man es sich so richtig schön gemütlich gemacht hat, verlassen, weil man seine Situation ändern möchte. Wenn man sie denn ändern möchte.

Wenn eine Situation nämlich ausgiebig bedauert wurde, braucht sich irgendwann ihre Bedauernswertigkeit auf. Und die Opferrolle fängt an zu nerven.
Man bringt sich nämlich in der Rolle des Daueropfers auch um jede Menge Spaß!

Und die Erfahrung hab ich auch gemacht!

Ich bin mir mit meiner beruflichen Opferrolle selbst ganz schön auf die Nerven gegangen.

Also hab ich mich quasi vor die Wahl gestellt. Entweder bedauere ich mich weiter dafür, dass ich all die Erwartungen und Bedürfnisse Anderer erfülle und meine eigenen hinten an stelle oder gar ignoriere, oder ich frage mich mal, wer in meinem Leben eigentlich die Hauptrolle spielt und ob ich überhaupt ein Opfer sein will.

Und da ich normalerweise eher der aktive, als der passive Typ bin (mein liebster Ehemann, wird mir diese Aussage bestimmt an meinem nächsten Schlafanzugtag unter die Nase reiben) und auch einfach die Nase voll vom Selbstmitleid hatte, habe ich angefangen meine Situation genau zu analysieren und nach Lösungen zu suchen.

Irgendwann in der Lösungsfindung ist mir eine Unterhaltung mit ehemaligen Kollegen in den Sinn gekommen: Wir haben reihum eine klassische Frage beantwortet: „ Was würdest Du tun, wenn Du jetzt im Lotto gewinnst?“
Meine Antwort kam ohne zu überlegen: „Ich würde in meinen alten Job zurückkehren und nebenbei schreiben.“

Irgendwann ist mir zum Glück eingefallen, dass ich garnicht im Lotto gewinnen muss, um mir diesen Wunsch zu erfüllen.
Es hat über drei Jahre gedauert, Jahre die ich in der Opferrolle verbracht habe, bis ich das kapiert hatte.

Aber hey – das Ergebnis zählt!

Ich bin zurück in meinem alten Job und, da Du diesen Blog liest, scheint es auch mit dem Schreiben geklappt zu haben.

Ich habe nicht nur beruflich die Erfahrung gemacht, dass es manchmal notwendig ist, sich zurückzuziehen und sich kräftig zu bedauern, aber dieser Zustand darf auf gar keinen Fall zur Lebenseinstellung werden.

Das Leben ist zu schön und zu kostbar, um es damit zu verbringen sich leid zu tun.

Wie siehst Du das?
Irgendwelche Einwände? Stimmst Du mir zu?
Oder bist Du gern ein Opfer und ich habe die positiven Seiten des Opferseins nicht erkannt?

Ich freue mich auf Deinen Kommentar!

PS: Natürlich spricht nichts dagegen auch mal im Selbstmitleid zu versinken.
Es gibt heute immer noch regelmäßig solche Tage, an denen ich das bedauernswerte Opfer der Natur bin, da muss ich mir selbst furchtbar leid tun und freue mich, wenn mich jemand so bemitleidet, dass ich sogar mit Tee, Wärmflasche und Pizza versorgt werde.
Ich denke, jede Frau versteht, welche grausamen Tage ich hier meine.

Weitere Artikel

2 Kommentare

  • Ilona

    Ilona

    Antworten

    Ich suche noch den Weg heraus und hoffe ich finde ihn! Sehr guter Beitrag, beziehe ihn in meine Lösungsansätze mit ein :*

    • stopstoppingyourself

      stopstoppingyourself

      Liebe Ilona,

      vielen Dank für Deinen Kommentar!

      Ich bin neugierig, welche Lösungsansätze hast Du denn für Dich gefunden?

      Liebe Grüße
      Rebecca

Hinterlasse einen Kommentar